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Willkommen in Röhrenfurth

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Von Flachs und Leinen

© Dorfgemeinschaft
Röhrenfurth

800 Jahre Röhrenfurth (1982)
Geschichte und Geschichten eines Dorfes
Aktualisierte Ausgabe

Von Flachs und Leinen, auch von den Röhrenfurther Leinewebern

Im Jahre 1667 "wanderte" Dietrich Ebert, ein Leineweber aus Röhrenfurth, nach Kassel aus, um dort sein Glück zu versuchen. Der Beruf des Leinewebers gehört mit zu den ältesten. Selbst für "größere" Bauern des Fuldatals und seine Nebentäler war er Hauptberuf Nr. 2; auch außerhalb der Landwirtschaft ermöglichte er einen bescheidenen Verdienst, zumal er das ganze Jahr ausgeübt werden konnte. Besaß der Leineweber noch ein wenig Ackerland, so baute er das erforderliche Rohmaterial, den Flachs (Lein) selbst an, und die ganze Familie half und war Zulieferer. Der Leineweber arbeitete auch im Lohnauftrag für die Bauern, sofern diese ihren Flachs in den Wintermonaten nicht selbst spannen und webten. Die Leineweberei war eine schwere Arbeit, ein geschickter Weber konnte täglich etwa eine halbe Steige = 10 Ellen oder rd. 5,70 Meter Leinen schaffen, bei einer Breite von 8/4 Ellen = rd. 1,14 Meter. Für Leib- und Tischwäsche wurde mit nur 6/4 Ellen = rd. 85 cm Breite gewebt.
Das hessische Leinen genoß einen guten Ruf und wurde als "Hessian-Leinen" bis in die USA exportiert. Besonders fest war das"Klangleinen" (beim Spannen gab es einen besonderen Klang, daher der Name), aus dem die Bauern das "Klängetuch" herstellten, jenes Tuch, das über die Bodenbretter und Ladeleitern der Erntewagen gespannt wurde, damit keine Körner verloren gingen.
In Röhrenfurth erinnern -sicher den altern unter uns noch gut bekannt- zwei Flurnamen an die Flachsverarbeitung jener Zeit: die "Dämme" und die "Bleechwesse", die Bleichwiese. Es ist wohl kaum noch bekannt, wieviel Arbeit nötig war, bis aus dem Saatkorn, dem Leinsamen, ein Bettlaken, ein Tischtuch, ein Hemd oder ein Kittel entstehen konnte.

chronik_s154Der Flachs, eine der ältesten Kulturpflanzen, wurde in das Brachfeld gesät, nachdem es dreimal geackert worden war, u. zw. einmal im Spätherbst und je einmal Mitte März und vor der Aussat. Den Frühflachs brachte man Anfang April in die Erde, um ihn Ende August zu rupfen. Zunächst legte man ihn in Schwaden auf dem Acker aus, wendete ihn, bis er vollständig trocken war, band ihn in kleine Garben und fuhr ihn nach Hause. Schon das Rupfen, Wenden und Binden war eine recht mühsame und anstrengende Arbeit, nichts für Leute mit einer schwachen Bandscheibe. In Röhrenfurth und in anderen Dörfern mußte auch noch während des letzten Krieges Flachs angebaut werden, nicht für den eigenen Bedarf, sondern zur Ablieferung an eine Fabrik in Hünfeld, die ihn zu Garn verarbeitete. Der anfallende Leinsamen war dabei eine willkommene Zugabe, aus der "Hellefett", Leinöl, geschlagen wurde, das Schrot diente zur Kälber- und Schweinemast.
War der Flachs eingefahren, wurde er zunächst in der Scheune geriffelt (gerefft). Dies geschah auf der Riffelbank, einem Bock, auf dem etwa 40 bis 50 ca. 20 cm lange Eisenspitzen steckten, deren Abstand sich von oben nach unten bis auf 1/2 cm verengte. Durch diese Zahnreihe wurden die Flachsbündel mehrmals hindurchgezogen, um die Fruchtkapseln und restliche Blätter abzustreifen. Die Fruchtkapseln (Knobben) ließ man auf einem "Klängetuch" trocknen bis sie aufsprangen, oder sie wurden gedroschen.
Nach dieser Prozedur kam der Flachs in die Röstgruben. In unserem Dorf waren zur Flachsröste drei zwischen 50 cm und 1,50 m tiefe Gruben am rechten Fuldaufer ausgehoben worden, die zur Fulda hin und untereinander durch Steindämme abgeteilt waren. Daher auch die mundartliche Bezeichnung "die Däm-me". Diese Abgrenzung war zum Schutz der Fischbrut in den landgräflichen „Fisch-Ordnungen" von 1559, 1581 und 1657 vorgeschrieben. Wer seinen Flachs in einem fließenden Fischwasser röstete, sollte bei Verlust des Flachses auch mit einer "unnachlässigen Straffe" belegt werden.
In den Röstgruben lag der Flachs, mit den Spitzen nach oben, zu kleinen Bündeln zusammengefügt und mit Brettern und Steinen beschwert, je nach Wassertemperatur, etwa eine bis drei Wochen, ca. 8 bis 10 cm unter Wasser. Die Röste, ein chemischer Prozeß, bei dem durch langsame Gärung die die Faser umhüllenden gummiartigen Stoffe gelöst und vom Wasser fortgetragen wurden, war beendet, wenn sich die Faser, ohne zu zerreißen, leicht vom holzigen Stengel abziehen ließ. Zur Nachröste und der damit verbundenen leichten Bleiche bereitete man den Flachs auf der unmittelbar an die Dämme angrenzenden Bleichwiese aus, wo er bei trockenen Tagen wiederholt mit Fuldawasser übergössen wurde. Auf der Bleichwiese bleichten die Leineweber ihr Leinen, auch die Hausfrauen legten dort ihre Wäsche zur Bleiche aus. Dabei gab es oft unliebsame Überraschungen, wenn die Gänse, die in ganzen Schwärmen tagsüber die Fulda bevölkerten, ihre grünen „Spuren" auf der weißen Wäsche hinterlassen hatten.
 
chronik_s155Im nächsten Arbeitsgang mußte die Flachsfaser vom hölzernen Stengel gelöst werden. Hierzu gab es verschiedene Geräte. Bei uns war das Brechen mit der sogenannten Handbreche üblich (siehe Foto), für deren Herstellung es den speziellen Beruf des Brechenmachers gab. In Röhrenfurth übte im Jahre 1712 Hanß Valtin Hartmann dieses Handwerk aus. Es gab auch noch andere Brechen als die gezeigte, z. B. ein nach oben und den beiden Seiten offener Kasten, an dessen einem Ende zwei übereinander liegende, mit verschieden tiefen und breiten Rillen versehene Walzen angebracht waren, durch die der Flachs wiederholt gezogen wurde. Hierbei zerbrachen, wie bei der Handbreche, die hölzernen Teile des Stengels. Die Arbeit des Brechens erforderte viel Geschick und Erfahrung; denn wurde zu fest gebrochen, setzten sich die Schaben (Schewwen), die Holzspäne des Kerns, an der Faser fest und waren nur schwer wieder zu entfernen, was dann die Qualität des Leinen beeinträchtigte.
Als nächstes waren die Schaben von der Faser zu trennen. Dies geschah durch das "Schwingen". Die Flachsfaser wurde in einer Hand senkrecht gehalten oder in einen Schwingstock gespannt und mit dem Schwingmesser unter ständigem Drehen von oben nach unten durchgezogen (geschwungen, geschabt), wobei die Schewwen nach unten fielen. Um aber ein spinnfähiges Material zu erhalten, waren weitere Arbeitsgänge erforderlich. Die groben Fasern mußten in feine Fäden zerteilt und von den restlichen Schaben befreit werden. Dies erreichte man mit der Hechel, einem mit nadelspitzen Eisenstiften besetzten runden oder viereckigen Brett, durch das die Flachsfaser immer wieder gezogen werden mußte. Die Entfernung der Eisenstifte untereinander war verschieden groß, und es gab eine Anzahl verschieden feiner Hecheln. Mit der größten und weitständigsten Hechel, der sogenannten Abzugshechel, wurde die Hechelarbeit begonnen und mit der feinsten, der Ausmachehechel, beendet. Während durch die Hechelzähne die einzelnen Fasern getrennt und dielängeren von den kürzeren geschieden wurden, behandelte chronik_s156man den Flachs auch zu wiederholten Malen mit einer Bürste aus Schweineborsten, wobei alle noch anhaftenden Holzteilchen von der Faser getrennt, der Staub entfernt und gröbere Fasern in feine Härchen gespalten wurden. Der Flachs erhielt dadurch eine besondere Feinheit und Weichheit. Nach dem Hecheln wurden die Fasern noch in Seifenlauge gewalkt, um sie für das Verspinnen geschmeidig zu machen.
Erst dann konnten die Frauen und Mädchen die aus feinen Fasern geformten keulenförmigen "Kauten" auf das Spinnrad stecken und mit ihrer Arbeit beginnen. Teilweise walkte man auch erst den gesponnenen Faden, bevor er verwebt wurde.
Von der Spule des Spinnrades wickelte man das Garn auf eine, in der Größe genormte, Haspel (Weefe). Genormt deshalb, weil 15 Umdrehungen der Weefe einen Garnstrang und dieser, umgespult, eine Spindel voll Garn ergaben. Auch die beim Hecheln und Streichen anfallenden Abfälle an minderwertigen Fasern, auch Werg oder Hede genannt, wurden versponnen und zu grober Kleidung oder Sackleinen verarbeitet (lt. Taxordnung von 1645 erhielt ein Knecht oder eine Magd neben dem Lohn noch eine bestimmte Menge Tuch "halb fläch -sin halb werkin").
Von dem im Jahre 1711 genannten sieben Röhrenfurther Leinewebern besaßen sechs ein eigenes Häuschen, in dem sie ihr Handwerk ausübten. Werner Steube ist bei den Hausbesitzern nicht erwähnt, vermutlich lebte er mit Johannes Steube (Vater oder Bruder) zusammen. Jeder der Leineweber mußte jährlich noch 6 Heller Contribution aufbringen, ebenfalls die vier Tagelöhner und der Wagner. Der Schmied hatte 2 Albus und der Schneider 1 Albus zu zahlen. Gewebt werden konnte nur Leinen, für die Wollweberei fehlte das Rohmaterial; denn nur die Riedesel besaßen das Recht, Schafe in der Röhrenfurther Gemarkung zu hüten.
Die Leineweberei ernährte eine vielköpfige Familie, wie sie damals üblich war, mehr schlecht als recht, und alle, ob alt oder jung, mußten mithelfen. Spinnen, Spulen, Haspeln waren Arbeit für die Frau und die Kinder, die auch das fertige Leinen zu bleichen hatten. Das Weben selbst, eine körperlich sehr anstrengende Arbeit, war Männersache. Zwölf oder mehr Stunden täglich den Webstuhl zu betätigen, brachte zwar das Brot ein, zum Zubrot reichte es aber kaum. Wer sich als Lohnweber bei chronik_s157einem Bauern verdingte, erhielt zusätzlich zur Kost die Woche 2 Albus 6 Heller. So war es in der Taxordnung von 1645 festgelegt, die sich im Laufe der folgenden 70 Jahre kaum geändert haben dürfte. Reichtum war mit der Leineweberei keinesfalls  zu  erwerben.
Trotzdem war sie ein Segen; sie brachte zusätzlich Arbeit und Brot, auch in unser rein bäuerlich ausgerichtetes Dorf. Selbst als ab 1800 die mechanischen Webstühle und ab 1830, vor allem 1855 die Spinnmaschinen das „Leinewebersterben" verursachten und viele Leineweber auswanderten, besonders in die USA, ruhten die Webstühle in Röhrenfurth nicht. Zumindest der Eigenbedarf an Leinen wurde noch bis zum Ende des Jahrhunderts, teilweise bis nach dem Ersten Weltkrieg aus dem selbst angebauten Flachs gedeckt, und es war selbstverständlich, daß eine Braut einige Steigen selbstgewebtes Leinen als Aussteuer mit in die Ehe brachte. Die wohlgefüllte Wäschetruhe war der Stolz einer jeden jungen Frau. In Röhrenfurth wurden im Jahre 1858 noch 120 Acker Flachs angebaut und auch selbst verarbeitet. Es gibt noch Wäscheschränke, in denen Leinen-Tischdecken liegen, deren Garn die Urgroßmutter gesponnen und der Urgroßvater gewebt hat.

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